Zur Geschichte von »Pinocchio« und der Musik
Carlo Collodis Romanheld Pinocchio, aus einem Holzscheit geschnitzt, ist eine Art künstlicher Mensch. Und damit ergeben sich schon ein paar zentrale Motive in »Le Avventure di Pinocchio«. Künstliche Menschen enden überwiegend entweder durch »Tod« oder durch erlösende Erhebung in den Rang wirklicher Menschen – für Pinocchio gilt, paradoxerweise, beides. Derartige Zwischenwesen tendieren außerdem dazu, sich gegen ihre Erschaffer zu wenden und aufzulehnen – Pinocchios erste Lebensäußerungen bestehen gerade darin, seinen Erbauer Geppetto zu ärgern und ihm davonzulaufen.
Das nun bekommt der lebenden Holzpuppe schlecht. Pinocchio erlebt mit Einsamkeit, Hunger und Gefahr unverhältnismäßig schwere Strafen für sein Verhalten. Frechheit und Leiden dauern aber nur drei Tage und drei Nächte. Dann muß der kleine Holzbengel in der Urfassung des Pinocchio, von Räubern erhängt, sterben.
Quintessenz dieser 1881 bis 1883 im »Giornale per i Bambini« in Fortsetzung erschienenen Geschichte: Ungehorsame, kindartige Wesen, die lasterhaften Verführungen erliegen, werden mit dem Tode bestraft. Grausamkeit kommt im Schafspelz pädagogischer Moral daher.
Mit der Entscheidung für ein »unhappy ending« seiner »Storia di un burattino« befindet sich Collodi in der Welt der Kinderliteratur durchaus in guter Gesellschaft. Denken wir nur an den »Struwwelpeter« von Heinrich Hoffmann, an »Max und Moritz« oder an das wahrscheinlich unmittelbare Vorbild für den Ur-Pinocchio, das »Rotkäppchen«. Der eine wird aufgehängt, die andere verschlungen – zum Leidwesen der Kinder, die sich mit diesen Figuren identifizieren. Aber für beide Helden ist der Tod nicht endgültig. Zur Entlastung der Hörer und Leser werden die beiden Gestalten zu neuem Leben erweckt und haben so doch noch Gelegenheit, die grausame Lektion zu beherzigen und fortan brav zu sein. Diese Wendung zum guten dürfte sowohl Rotkäppchen als auch Pinocchio erst berühmt gemacht haben.
Wie ist es überhaupt zu erklären, daß die Abenteuer des Pinocchio weitergehen? Belege sind Collodis Geldnöte und das Interesse der Zeitschrift an einer Fortsetzung, nicht jedoch die stereotype Behauptung der Sekundärliteratur, die jungen Leser hätten diesen Wunsch geäußert.
Collodi nimmt den roten Faden der Geschichte geschickt wieder auf, indem er mit einem Seitenhieb auf die Ärzte die Frage aufwirft, ob sein Held eigentlich ganz tot oder nur fast tot, also lebendig sei.
Der zweite, längere Teil des Werkes schlägt eine neue Richtung ein: die Abenteuer des Helden sind bunter, vielfältiger und nähern sich stärker dem Märchenhaft-Wunderbaren an. Zeitlich und räumlich greift Collodi nun weiter. Zwei Jahre lang fliegt Pinocchio auf einer Riesentaube durch die Luft, durchschwimmt das Meer, reitet auf einem Delphin und findet sich als neuer Jona im Bauch eines Riesenwals wieder. Da der Bengel wiederholt rückfällig wird, muß er noch mehrmals das selbe Handlungsschema durchlaufen, bis ihm seine Schutzfee das Lebensziel eines jeden künstlichen Menschens bewilligt: die Verwandlung in einen richtigen Menschen.
Der Gewinn des Schlusses isr damit zugleich ein Verlust: Pinocchio ist nicht mehr er selbst, der brave Junge nicht wirklich identisch mir dem Helden des Romans. Der neue Mensch mag mit seiner Verwandlung »contento« sein, »buffo« war nur der »burattino«, faszinierend nur das Zwitterwesen.
Angelika Schulz
Es geht auch anders
Die vielen anderen Autoren, die Pinocchio serienweise neue, oft triviale Abenteuer zuschreiben, gehen meist einfach über den Endpunkt seiner Erhebung zum Menschen hinweg. Gerade die bedeutenderen Schriftsteller aber, die sich von Collodi inspirieren haben lassen, ersinnen – unzufrieden mit der Erhebung zum Menschen – andere Schlüsse.
Als erster hat Otto Julius Bierbaum Pinocchio, im wahrsten Sinne des Wortes, eingedeutscht. »Zäpfel Kerns Abenteuer« (1905) vielfach als Übersetzung angesehen, ist in Wirklichkeit eine freie Bearbeitung, eine ironisch-satirische »Wilhelmisierung« Pinocchios. Auch Bierbaums Fee bietet ihrem Schützling am Ende die Vermenschlichung an. Zäpfel Kern zögert, um dann doch darum zu bitten, ein Kasperle bleiben zu dürfen. »So verlör ich ja alles, was ich bin, Mama: meine Natur und mein Kunstwesen.« Und die gute Fee erhöht, die Erzählillusion spielerisch durchbrechend, den Entschluß zur Moral der Geschichte: »Recht gesprochen mein Kind! … Bleibe, was du bist: kein Menschenkind, aber ein Bild für Menschenkinder, von dem sie lernen mögen, indem sie darüber lachen!«
In russischer Sprache hat 1924 Graf Alexej Nikolajewitsch Tolstoj sein erfolgreiches Kinderbuch »Das goldene Schlüsselchen oder die Abenteuer des Burattino« veröffentlicht. Er faßt die bei Collodi locker gereihten Einzelabenteuer und die Personen enger zusammen. Dem, wenn auch ungezogenen, so doch positivem Helden Burattino steht eine Gruppe verbündeter, böser Figuren gegenüber. Die ganze Geschichte ist als Marionettentheater angelegt, die Ebenen Kunst und »Wirklichkeit« werden dabei aber immer wieder geschickt durchbrochen. Tolstojs Happy End, die Befreiung der Puppen aus der Knechtschaft des grausamen Thearerdirektors, krönt den Text durch Politisierung: Revolution im Marionettentheater. Doch die politisch brisante Thematik bleibt eingebettet in der Darsrellung eines allgemeinen Emanzipationsprozesses. Burarrino steht nicht unter dem für Pinocchio schicksalhaften Zwang, ein (allzu) braver Mensch werden zu müssen. Er bleibt, ja er wird im Verlauf der Geschichre erst wirklich er selber, zusammen mit seinesgleichen.
Während Bierbaum und Tolstoj Pinocchio lieber bleiben lassen, was er ist, kehrt bei Christof Merkel der vermenschlichte Held zu seiner ursprünglichen hölzernen Existenz zurück. Merkel setzt sich aber zunächst einmal kririsch mit Collodis Pinocchio auseinander: das Buch erziehe, in grausam-autoritärer Weise, zu engstirnigem Gehorsam und Entfaltungsverzicht. Diese Kritik war 1972 historisch fällig. Statt eines zwar guten, damit aber auch durchschnittlichen Menschenkindes fordete Merkel das hölzerne Bengele zurück. In seiner Replik wird Pinocchio nach einigen Monaten Menschseins wieder zurückverwandelt und unternimmt ein für alle mal, was er früher immer gern getan hat: er läuft davon, vor Geppecro, vor der Grille, vor dem Bravsein und der Angepaßtheit. Merkels Appell: Laßt die Kinder die erste Lebensphase gefälligst unbeschwert und schöpferisch genießen.
Pinocchio als Symbol der eigenen Kindheit, gerade das macht die Faszination dieser kleinen literarischen Gestalt aus. Paradox ist dabei nur, daß ausgerechnet das nicht voll Menschliche die Sehnsüchte anspricht. Die Identifikation mit der Figur des Pinocchio ermögliche wohl vor allem das Aufarbeiten kindlicher Ängste und negativer Erfahrungen – Katharsis im Sinne von »Gänsehaut und nassem Taschentuch«.
Angelika Schulz
Fritz Hartmann: Musik zu »Pinocchio«
Komponisten sind meist wenig erfreut, wenn man sie fragt, was sie sich bei der einen oder anderen Komposition gedacht haben, was sie fühlten und welche Bilder ihnen vor Augen standen. Auch ich werde hin und wieder gefragt, und für manchen ist meine Antwort etwas enttäuschend: Selten bewege mich beim Komponieren der Gedanke, ein Gefühl zu »illustrieren« oder ein Bild zu »malen«. Ich denke eher in musikalischen Strukturen.
So ging es mir auch bei »Pinocchio«. Gewiß, es bestand die konkrete Aufgabe, den szenischen Abläufen der Pantomime eine entsprechende Musik zu geben. Natürlich sollten die Figuren, allen voran der hölzerne Bengel, schon durch ihre Klanggestalt gekennzeichnet sein. Aber das blieb mehr oder minder Theorie und rationale Vorgabe. Die Wirklichkeit lief ein wenig anders ab. Die vielfältigen Eindrücke bei der Lektüre des Buches und bei der Beobachtung der Proben umgingen den Verstand und kamen als ungeplante, spontane Einfälle zu rage.
Rasch sammelte sich das »Material«. Aber schließlich begann dann doch eines Tages der Prozeß, das Material den Szenen und ihren rasch wechselnden Orten und Stimmungen zuzuordnen, die Bewegung der Akteure mit der Bewegung der Musik zu koordinieren und dem Klaviersatz durch die Instrumentierung Farbe und Glanz zu geben. Ich hoffe, daß mir dies im hörenswerten Maße gelungen ist.
Fritz Hartmann
Sarah Defer: Über meine Arbeit
Bei meiner Arbeit als Illustratorin und Bühnenbildnerin versuche ich oft, das Hauptmotiv der Handlung und das Aussehen der Hauptfiguren in Verbindung mit einer alter Sprache und ihrem Schriftbild zu setzen. Von ihren Schriftzeichen lasse ich mich gerne inspirieren. Ich glaube, daß sie nicht nur eine bestimmte abstrakte Bedeutung wiedergeben, sondern auch tief auf uns wirken. Die Schriftzeichen entwickle ich in meiner Fantasie weiter, als ob ich an einer Skulptur arbeiten würde: aus diesem Rohmarerial enrsteht etwas Lebendiges, ganz so, wie auch Pinocchio aus einem Stück Pinienholz zum Leben erweckt wurde. Die Schriftzeichen bieten viel Spielraum für Gestaltung, ohne daß sie ihre ursprüngliche Wirkung auf uns verlieren.
Pinocchio mit seiner spitzen Nase begibt sich immer wieder in neue und gefährliche Abenteuer, sein Weg führt im Zickzack durch schmerzliche Erfahrungen. Die Wirkung der assyrischen Keilschrift mit ihren vielen Pfeilern ist für mich ganz ähnlich dem schnellen und rhythmischen Wechsel in Pinocchios Lebenswandel.
Sarah Defer