Jacques Offenbach (1819-1880) »Hoffmanns Erzählungen«
(Les Contes d’Hoffmann)
Phantastische Oper in fünf Akten
Libretto nach dem gleichnamigen Drama von Jules Barbier und Michel Carre
Quellenkritische Neuausgabe von Fritz Oeser
Deutsche Übertragung von Gerhard Schwalbe
Zur Interpretation und Inszenierung
»Hoffmanns Erzählungen« ist eine fantastische, komplizierte und vielschichtige Oper. Stilistisch und inhaltlich führt uns Jacques Offenbach vor allem in drei Sphären: Das Fantastische, das Romantische und das Witzig-Ironische. Ähnlich wie bei Goethes »Faust« geht es um eine Art Wettspiel zwischen guten und bösen Mächten. Ähnlich gründlich wie Faust wird Hoffmann mit den »bösen« Mächten konfrontiert. Doch Faust ist Wissenschaftler, Hoffmann ist Künstler. Bei Faust geht es um die Erkenntnis („was die Welt im Innersten zusammenhält«), bei Hoffmann um Liebe, Gefühl, Seele. Aus Hoffmanns leidvollen Erfahrungen entsteht nicht Wissen(schaft) sondern Kunst.
Die Personen, an denen er sich reibt, verzerren sich in seiner Fantasie zu Bösewichten, Zwergen, Puppen, Geistern, raffinierten Kurtisanen. Pointiert könnte man Hoffmanns Problem so ausdrücken: Er hat zuviel Fantasie, interpretiert zu viel in alles hinein und kommt deswegen mit der nüchternen Realität, wie sie die Anderen ganz einfach sehen, nicht klar. Aus dieser Reibung entsteht aber eben die Kunst, schön wie ein Schmetterling, der aus einer hässlichen Raupe entsteht. Und an ihr können alle einen Genuss haben, deswegen ist der Künstler (Hoffmann), der im wirklichen Leben immer »daneben liegt«, säuft, träumt, ungeschickt ist, für alle doch wichtig und von großer Bedeutung.
Einfacher wäre das Leben für den Künstler, wenn er gleich den Ehrgeiz aufgeben würde, in der Realität so sein zu wollen wie die Anderen. Dieser Meinung ist die personifizierte Muse, die möchte, dass Hoffmann sich ganz ihr widmet und seine Energie nicht unnütz verschwendet an Dinge und Personen, die ihm sowieso verschlossen bleiben, weil sie seiner großen künstlerischen Fantasie nicht gewachsen sind.
Unsere Inszenierung beginnt in einer modernen Kantine; die Studenten um Hoffmann sind Jugendliche wie man sie auf der Straße sieht, mit dem Krimskrams der aktuellen Zeit beschäftigt und Fernsehen, Video und Internet hemmungslos ausgesetzt. Aber Hoffmann ist doch ein Exot für sie, an dem irgend etwas Faszinierendes ist, zumindest etwas Unterhaltsames für eine Zeitlang. Niklas (=die Muse, verwandelt in einen Menschen) ist der Typ von hellem, scharfsinnigem, leichtfüßigem Studenten, der nicht den Strömungen ausgesetzt ist, die für die Jugendlichen so wichtig sind, sich aber mit seiner Leichtigkeit und Intelligenz dennoch zu integrieren weiß und beliebt ist.
Die Umgebung ist schwarz-weiß-beige-braun-grau: Erst Hoffmanns Fantasien zaubern Farben herbei. Spiegel, Spiegelung, Reflexionen, Brillen, Erscheinungen, Schatten, Diamanten sind ein wichtiges Motiv dieser Oper. Wir nehmen den Kristall als ein Motiv für das Bühnenbild auf: Der Kristall hat viele Spiegelflächen, in denen sich alles vielfältig spiegelt und gebrochen wird. Und Kristallisieren heißt auch: Sich Ausformen: Hoffmanns Ideen kristallisieren sich aus seinen Erlebnissen. Unsere ganze Bühnenform erinnert (besonders auf der Seebühne in Isny) an einen Kristall (der sich zudem noch im Wasser spiegelt).
Im 2. Akt kristallisiert sich Olympia aus den Experimenten des Alchemisten Spalanzani heraus. Olympia zeigt den virtuosen, glänzenden, äußerlich schönen Aspekt der Frau, von dem Hoffmann geblendet ist, zumal er sie noch durch Coppelius »rosa« Brille sieht.
So wie im 1. Akt aus hässlichen, wunderlichen Raupen (Geistern des Alkohols) ein Schmetterling wird, Inbegriff von Anmut und Leichtigkeit, entwickelt hier im 2. Akt Spalanzani aus Experimenten mit wusligen, seltsamen und etwas ekligen Käfern das äußerlich perfekte menschliche Wesen.
Das Manipulieren an lebendigen Wesen ist eins der vielen Nebenmotive, die sich in den »Erzählungen« spiegeln und durch das Klonen ein heute wieder besonders aktuelles. Der historische Professor Spalanzani hat schon im 18. Jahrhundert in Italien Versuche mit Erbgut gemacht.
Geht es im 2. Akt um Manipulation durch Technik, so geht es im 3. Akt bei Antonia um Manipulation durch Magie. Antonia hat zwar im Gegensatz zu Olymp wirklich Gefühle, aber diese kommen nicht aus ihr selbst heraus. Ihre Seele ist sozusagen ein »Gefäß«, in dem die Gefühle, die von außen angetragen werden, zum Klingen kommen. Niklas beschreibt es in seiner Arie: Wie die Saite eines Musikinstrumentes – es erklingt auf ihr das, was der, der spielt, in sie hineinlegt.
Antonia kann somit zur Beute des unheimlichen, todbringenden Doktor Mirakel werden, der sie mit der Geisterscheinung ihrer verstorbenen Mutter und dem Vorgefühl von großem Ruhm als Sängerin so zum Singen bringt, dass sie in Ekstase »zerberstet«.
Antonia schien Hoffmann zu lieben, aber eigentlich liebte sie die Musik, die er ihr brachte und die sie in Schwingung versetzte. Und da war sie für Doktor Mirakel, der sie mit seiner Magie in Schwingung versetzte, genauso empfänglich und musste sterben.
Wir betreten den Salon, das Musikzimmer von Antonia und ihrem Vater, eine ästhetische, künstlerische Welt. Aber das Blau und Weiß sind etwas kühl, die seltsamen Lämpchen sind etwas unwirklich, weil Antonia keine ursprüngliche, eigene Gefühlswärme hat. Doktor Mirakel, wie ein Hirschkäfer, unheimlich, prägnant, einfach da und nicht abzuweisen, wie der Käfer aus Kafkas »Verwandlung«; ähnlich ist er auch im 2. und 4. Akt als Brillenmagier Coppelius und als teuflischer Zuhälter Dapertutto. Hoffmanns Fantasie verzerrt den nüchtern berechnenden und etwas rücksichtslosen Realpolitiker Lindorf zu diesem Ungeheuer.
Im 4. Akt entfaltet sich mit viel Rot die verführerische und morbide Kraft Venedigs, das in seiner Pracht und Schönheit aus Bordellen und Spielhöllen besteht. Muscheln und Meerestiere in den Kostümen der Kurtisanen symbolisieren weibliche Verführungskünste. Giulietta ist ein echter Mensch mit eigenen Gefühlen.
Aber sie verführt, betrügt und belügt Hoffmann auf die niederträchtigste und berechnendste Art, indem sie ihm als raffinierte Schauspielerin Gefühle vorspiegelt. In Venedig kommt Hoffmann am Tiefsten herunter. Er verspielt all sein Geld und verschenkt schließlich gar sein Spiegelbild (so wie Schlemihl seinen Schatten) – als Symbol des Selbst, der freien Selbstbestimmung. Noch nicht genug, am Schluss lässt er sich gar hinreißen, einen Mord zu begehen – und wird noch von Giulietta verhöhnt, die mit dem Zwerg Pitichinaccio und dem bösen Dapertutto auf der Gondel davonfährt.
Im 5. Akt ist Hoffmann total erschöpft von allem was ihm zugestoßen ist, voll betrunken vom Wein, der seine Fantasien beflügelt hat – und sieht sich vollständig ruiniert. Nun sehen wir Stella erstmals in Wirklichkeit: Eine hübsche attraktive junge Frau, Musicalstar, erfolgsverwöhnt, dadurch etwas naiv, wahrscheinlich auch nicht besonders intelligent. Ihr perfektes Äußeres, gepaart mit Unreife, hatten in Hoffmann das Bild der Olympia entstehen lassen. Ihr opportunistisches sich Hingeben an Impresarios, die ihr Erfolg versprachen, ergab das Bild der Antonia. Und ihr Opportunismus, wenn plötzlich andere Liebhaber daherkamen oder sie keine Lust hatte, verdichtete sich für Hoffmann zu Giulietta. In Wirklichkeit machte sich wohl Stella nicht ein Hundertstel der Gedanken über Hoffmann, die er sich über sie machte – aber sein Problem ist, dass ihm das nicht klar ist: Nicht alle haben so viel Fantasie wie er. Deswegen soll er sich dieser Fantasie («Muse«) als seinem Talent hingeben. Und wenn er sich der Muse schließlich überlässt, ganz am Ende der Oper, dann sind die anderen Menschen, sei es die naive Stella oder der nüchtern kalkulierende Stadtrat Lindorf gar nicht mehr so bedrohlich für ihn – und es kann zu einer ganz normalen Beziehung zwischen ihnen kommen.
Hans-Christian Hauser