Nikolaj Rimski-Korsakow (1844-1908)
»Schneemädchen, ein Frühlingsmärchen«
Romantische Oper in vier Aufzügen in russischer Sprache
Nach einem Märchen von A. N. Ostrowsky
Im Mai haben wir Strawinskys Vertonung von Andersens Märchen »Die Nachtigall« gespielt. Im Juli nun präsentieren wir wieder ein Märchen: »Schneemädchen«, das viele Züge alter russischer Volksmärchen trägt, zur Oper komponiert von Strawinskys Lehrer Nikolai Rimski-Korsakow, der sich gerne mit Operntoffen beschäftigt hat.
Strawinskys Musik fordert das Publikum heraus: herbe Rhythmen und Klänge wechseln mit impressionistischem Flirren und mit Melodien von süßer Weichheit und farbiger Virtuosität. Dem ungeübten Hörer fällt dies bisweilen schwer zu genießen, aber eine häufigere Beschäftigung mit dieser Musik lohnt sich. Sie ist reich und tief.
Ganz anders Rimski-Korsakow: seine Musik wird wohl von einem größeren Publikum als eingängig empfunden. Man spürt russischen Volkston als eine wesentliche Wurzel der Musik. Die Arien entspringen häufig aus der Haltung des einfachen Volksliedes. Daneben gibt es Rezitative sowie leidenschaftliche Passagen romantischer Art.
So unterschiedlich die Musik, so unterschiedlich ist auch der Inhalt. Das Märchen von der Nachtigall würde ich deuten als Einbruch des Göttlichen in die von Macht. Besitz und Konstrution geprägte Welt der Menschen. Das Göttliche, das sich hier im Gesang der Nachtigall ausdrückt, bringt Erlösung und Shalom (=Unversehrtheit).
Keine christlich-jüdischen Gewissheiten zeigen sich im Märchen vom Schneemädchen, sondern pantheistische, naturreligiöse Vorstellungen: die Menschen fühlen sich den Kräften der NATUR in magischer Weise verbunden. Der Zar versucht den zürnenden Sonnengott durch das Aufgebot von möglichst vielen Liebespaaren zu versöhnen, quasi als Opfer, denn mehr Liebe zwischen den Menschen lässt auch die wärmenden Strahlen der Sonne bereitwilliger scheinen.
Der Hirte Lei empfängt durch sein besonders inniges Verhältnis zur Natur eine besondere künstlerische Ausstrahlung als Gabe, die die Menschen erfreut und erquickt. Frost, Frühling und Sonnengott (also der Sommer), dazu der Puck-ähnliche Waldgeist Leschi haben großen Einfluß auf Wohlbefinden und Gefühle der Menschen.
Die Menschen leben in einer einfachen, beschränkten Dimension. Ihr Lebensgefühl ist völkisch. Ihr Heil ist nicht wie beim Andersen-Märchen die Erlösung durch das Göttliche, sondern möglichst große Harmonie zwischen ihrem einfachen volkstümlichen Leben und den Kräften der Natur.
Der Zar ist weise, weil er das Gefühl für diese rechte Balance hat. Der Hirte Lei kann die Menschen mit seiner Kunst, mit seinem Gesang für Momente in diese HARMONIE versetzen.
Die Geschichte beginnt ja damit, dass Schneemädchen die Lieder des Hirten Lei so schön findet und deswegen zu den Menschen kommen möchte. Kunst und Musik sind es ja, was die Menschen vor den Naturkräften auszeichnet.
Wir zeigen die einfach dimensionierte, begrenzte Welt des Volkes der Berendäer durch Wandschirme aus. Die Tuschezeichnungen darauf symbolisieren die sichtbaren Phänomene von denen die Menschen sich umgeben sehen.
Deren Wahrnehmung ist auf Phänomene, Ahnungen, Gefühle, Andeutungen beschränkt. Sie sehen nicht wirklich über ihre sichtbare Welt hinaus (die wir in Schwarz-Weiß darstellen), doch sie FÜHLEN einen Zusammenhang mit den zugrundeliegenden Kräften der Natur. Farbiges Licht kann diesen magischen Zusammenhang vor Augen führen.
Ein wirkliches Ausbrechen in andere Dimensionen kann nicht gelingen: der reiche Held Misgir verliebt sich in Schneemädchen, ein Wesen aus der Welt der Natur. Diese Liebe ist zu ideal, sie kann nicht gut enden. Schneemädchen muß sterben, schmelzen, weil sie lieben will wie ein Mensch, und das ist ihrem Wesen nicht gemäß. Misgirs Liebe ist zu ideal, zu leidenschaftlich, zu verrückt, und er stürzt sich in den Tod.
Hingegen finden Lei und Kupawa zu einer reifen, maßvollen, reellen Liebe als Menschenpaar, und diese Liebe steht deshalb in HARMONIE mit Volk und Naturkräften. Wenn Misgir und Schneemädchen tot sind, so bekommen wir als Publikum in diesem Märchen keine Erlösung der beiden vor Augen, sondern der Blickwinkel bleibt bei den Menschen der begrenzten Welt. Für sie ist es so, dass die Liebe zwischen Schneemädchen und Misgir als magisches Opfer die Naturkräfte besänftigt und damit den Überlebenden für diesen Sommer Heil gebracht hat. In diesem Glücke der Harmonie mit den Naturkräften singen sie die Schlusshymne an den Sonnengott.
Hans-Christian Hauser