Wilhelm Tell – Ein Nationalmythos mit weitreichenden Folgen
Das Drama »Wilhelm Tell« von Friedrich Schiller aus dem Jahre 1804 handelt von dem Jäger Wilhelm Tell, der sich zur Wehr gegen den Vogt Gessler und der damit verbundenen Herrschaft Österreichs über die Schweiz im 12. und 13. Jahrhundert setzt. Schillers Auffassung eines Naturrechts, das keine Unterdrückung des Einzelnen vorsieht und sich durch Selbstbestimmung charakterisiert, wird in Wilhelm Tell verkörpert. Schon Goethe hatte die Idee, die Sage in einem deutschen Drama zu verarbeiten, wie aus einem Brief an Friedrich Schiller hervorgeht. Doch Goethe hat das Thema nicht behandelt und so fing Schiller 1803 mit der Arbeit an dem Drama an. So wurde das Stück am 17. März 1804 im Weimarer Hoftheater uraufgeführt. Für die ersten vier Akte orientierte sich Schiller an der Schweizer Chronik von Ägidius Tschudi, erst im fünften Akt weicht er etwas von der Vorlage ab. Diese Chronik, Chronicum Helveticum, beschreibt die geschichtlichen Ereignisse der Schweiz zwischen 1000 und 1470. Tschudi stellt die Begebenheiten sehr subjektiv dar und verwendet umstrittene historische Dokumente, die möglicherweise von ihm an seine Darstellungen angepasst wurden. So entsteht auch die Sage um Wilhelm Tell, die die Grundlage für Schillers Drama bildet.
Schillers großes Interesse am Thema Freiheit hatte er beispielsweise im Drama »Die Räuber« schon gezeigt. Manche Kritiker schreiben die besondere Vorliebe Schillers zum Freiheitsgedanken seiner ungewollten beruflichen Laufbahn zu. Ursprünglich wollte Schiller Pfarrer werden, aber unter der Führung des Landesfürsten Herzog Karl Eugen bekam jeder Bürger seinen Beruf vorgeschrieben. So studierte Schiller zuerst Jura und später Medizin. Die Tatsache des vorbestimmten Lebenswegs könnte ein Grund für die Entwicklung von Schillers Ambitionen sein. Nun soll der Frage nachgegangen werden, in wieweit Wilhelm Tell als Nationalheld gesehen werden kann und welche Auswirkungen seine Rebellion auf die heutige Schweizerische Gesellschaft hat. Zuerst stellt sich das Problem der Gesinnung Tells gegenüber seinem Mord. Man kann es zum einen so sehen, dass Tell damit die Freiheit der Bevölkerung bewirken wollte. Andererseits wollte Tell vielleicht auch einfach nur Rache an Gessler üben, da dieser seinen kleinen Sohn der Gefahr ausgeliefert hatte, durch den eigenen Vater ermordet zu werden.
In Schillers Drama wird Tell am Ende von den Menschen bejubelt und gefeiert. Für sie war Tell zweifellos die Symbolfigur der Befreiung von der Tyrannei der Habsburger. Dass aber zu fast derselben Zeit König Albrecht, welcher die Reichsunmittelbarkeit der Schweizer missachtete und sie zu Knechten der Habsburger machen wollte, von dessen Neffen ermordet wurde, ist in diesem Moment unwichtig. Johannes Parricida hatte den König nur ermordet, weil dieser ihm sein Erbe vorenthielt. Als Parricida bei Tell auftaucht und um Schutz bittet, überredet Tell diesen aber, nach Rom zu gehen und dem Papst seine grausame Tat des Vatermords zu beichten.
Aber auch die zweite Möglichkeit, nämlich dass Tell nur Rache an Gessler hatte üben wollen, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Der Mord an Gessler hätte wahrscheinlich keine Veränderungen in der Regentschaft des Königs gebracht, sondern dieser hätte einfach einen neuen Landvogt eingesetzt.
Die weiterreichenden Folgen hatte sicherlich der Mord an König Albrecht, dem die Unterwerfung des Volkes in erster Linie zuzuschreiben ist. Durch die freigewordene Führungsposition wurde ein Neuanfang möglich. Das »Problem« wurde an der Wurzel gepackt und herausgerissen.
Schiller vollführt hier einen großen Spagat zwischen zwei Morden mit unterschiedlichen Motiven. Der Mord des Parricida an seinem Vater König Albrecht ist hier moralisch unhaltbar und würde sicher auch nach heutigem Recht hart bestraft werden würde. Andererseits rechtfertigt Schiller Tells Mord an Gessler als Befreiungsschlag von der Tyrannei. Dieser ist an sich schon als Verbrechen zu werten, da Tell gezwungen wurde, auf sein eigenes Kind zu zielen. Aus Schillers Sicht bringt Tell hier nur ein Naturrecht zur Geltung.
Doch es ist nicht die Ermordung eines Tyrannen – Folge eines Problems zweier einzelner Menschen – die die Freiheit brachte. Vielmehr ist der vorangegangene Rütli-Schwur der Grund, weshalb die Schweizer heute in einer Eidgenossenschaft leben. Die Freiheit der einzelnen Bürger ist der zentrale Punkt des Dramas, der Brücken zu geschichtlichen Ereignissen wie etwa der Französischen Revolution schlägt. Der Rütli-Schwur kann als Anlehnung an den Ballhausschwur gesehen werden, der Hut des Gessler als Symbol der Freiheit, wie etwa die tricolore. Auch die Erstürmung des Zwing Uri kann mit dem Sturm auf die Bastille verglichen werden. Es sind also geschichtliche Vorbilder in der Handlung zu finden, die die Befreiung des Volkes von der Obrigkeit zum Inhalt haben.
Diese Analogien geben den Schweizern in verschiedenen Situationen einen Halt, einen Inbegriff dessen, nach was sie streben. Im 17. und 18. Jahrhundert war Wilhelm Tell ein Vorbild, fast sogar ein Idol für die Bauern, die sich etwa im Bauernkrieg im Jahr 1653 von den Städten durch Belagerungen eine Erleichterung bei den Steuerabgaben erwirkten. Auch im 20. Jahrhundert ist der Mythos Tell sehr präsent im Bewusstsein der Schweizer. Das beste Beispiel dafür ist eine Aufführung der Oper 1914 in Interlaken bei den Tellspielen, bei der die Zuschauer sich geschlossen erheben um den Rütli-Schwur mitzusprechen. Das von Rossini vertone Motiv wirkt fast wie eine inoffizielle Nationalhymne der Schweiz.
Sicherlich kann man die nachhaltigen Folgen des Rütli-Schwurs heute noch spüren. Schließlich wurde mit ihm der Grundstein für die heutige Politik der Schweiz gelegt. Ob Wilhelm Tell nun als Nationalheld oder Vorbild eines Volkes gesehen werden kann, liegt sicher im Auge des Betrachters. Tell wirkt als einfacher Mann, der seine eigene Sache verfolgt, aber durch den Mord an dem Tyrannen Gessler auch eine indirekte »nationale« Bewegung hervorruft. Das Freiheitsgefühl prägt die Eidgenossenschaft bis heute, da sie in vielen Angelegenheiten als neutraler Bund auftreten. Die Sage um Wilhelm Tell und den Rütli-Schwur gab und gibt vielen Menschen ein Vorbild, bleibt aber dennoch nur ein Mythos.
Claudius Grath