Hans-Christian Hauser: Oratorium »Die Himmelsleiter
Ich beobachte, dass Franz Kafka die gleichen existentiellen Themen behandelt wie die berühmten Bibelszenen, aber er sieht mit den Augen und fühlt mit Psyche und denkt die Gedanken des MODERNEN Menschen…Diese Gegenüberstellung interessierte mich:
Man meint Kafka so zu kennen, als sieht er die eifrige Bemühung des Menschen aussichtslos, verstrickt, verhangen, verrätselt… In den Szenen aus der Bibel hingegen wird den Menschen Gnade geschenkt, ein Gefühl, wie wenn an einem trüben wolkenverhangenen regnerischen Gebirgstag plötzlich die Sonne durchbricht. Aber auch bei Kafka gibt es Szenen, wo diese Sonne der Gnade schon ganz da ist (zum Beispiel in KINDER AUF DER LANDSTRASSE); und da, wo sich das Verhangene nicht öffnet, fühlen wir ganz intensiv die große Sehnsucht, dass es sich doch öffnen möge. Gnade ist der theologische Grundgedanke Luthers. Deswegen passt unsere Suite von Szenen zum Reformationsjubiläum.
Der Ort um die KANZEL ist in unserer Inszenierung dem tüchtigen Ringen um Übersetzung und sprachlichen Ausdruck gewidmet. Luther als Übersetzer, der die deutsche Sprache maßgeblich prägte, wetteifert hier mit Martin Buber, dessen Anliegen es war, die Atmosphäre und Tiefe der hebräischen Worte möglichst energiegeladen ins Deutsche zu retten. Und sie wetteifern mit den modernen Übersetzern der »Bibel in gerechter Sprache«, die nicht nur provozieren will, sondern eine unserem derzeitigen Lebensgefühl entsprechende Sprache gefunden hat.
Kafkas Figuren spielen nahe am Publikum, VOR DEM ALTAR, als Bergsteiger: der tüchtige, unverdrossne, mit Rucksack, Taschenlampe und Schirm dem Wetter trotzende, sich einen Weg erkundende, auf sich gestellte, kleine Mensch…
Im CHOR der Nikolaikirche passiert dann das Einbrechen des Jenseitigen, des Unverfügbaren, des Göttlichen, der Gnade in die diesseitige Welt. Ein Segelschiff bricht durch die Chorwand der Kirche, mächtig getragen von Wind, Geist, von göttlicher Energie, von rätselhaftem Schwung, von Zauber.
Das Gebirge ist klassischer Ort der Gottesbegegnung: den Gipfel zu erreichen erfordert Anstrengung und Entbehrung, die Luft ist dünner und klarer, die Perspektive ist geweitet, die Zivilisation entfernt…
Wir sind hier nahe am Himmel, und Effekte des Lichtes berühren uns zauberhaft.
Ob hebräische Bibel oder Neues Testament oder Qur´an: gemeinsam haben sie doch diesen Zauber der unvermittelten Gottesbegegnungen. Dreizehn Szenen von Gottesbegegnungen: ich wählte und betitelte die Szenen entsprechend der jeweiligen Stimmung, dem Gefühl, der Art der Bewegung oder einfach nach dem Thema.
In den ersten acht Szenen passiert dem Menschen die Begegnung aus einer gewissen beobachtenden Distanz. Den krönenden Abschluss dieser Reihe bildet die prächtige Vision der Himmelsleiter. Nach dieser Szene lassen wir dem Publikum einen Einschnitt, eine Pause.
In den dann folgenden fünf Szenen wird Gott ganz direkt erfahren, nämlich als Schöpfer, zu dem es keine Distanz gibt. Die Schöpfung erfolgt in mehreren Abschnitten.
In der letzten dieser Szenen geht es ganz konzentriert um Gnade, eben das Grundmotiv Luthers. Hier steht der Mensch nicht neugierig forschend oder bezaubert dem Göttlichen gegenüber. Sondern hier betrifft es den Menschen ganz existenziell. Die Gnade ereignet sich aus dem Nichts, in der Glut der Mittagshitze, in der Wüste: die drei Boten erscheinen unvermittelt und verschwinden ebenso wieder, in der Glut der Mittagshitze.